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sozial & Soziales Teil 1

sozial & Soziales Teil 1

Funktionalismus (Gesellschaft)

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Der Begriff „Funktionalismus“ wird in Soziologie, Ethnologie und Politikwissenschaft zur Bezeichnung von verschiedenen Ansätzen verwendet.

Sozialwissenschaften

In der Soziologie und Ethnologie werden damit Theorieansätze bezeichnet, die soziale Phänomene auf ihre soziale Funktion in/für die betreffende Gesellschaft oder Gruppe hin zu erklären versuchen. In der soziologischen Systemtheorie bedeutet dies, dass Systemen eine Funktion (bezüglich ihrer Umwelt oder anderer Systeme oder Suprasysteme) unterstellt wird, und Prozesse und Strukturen darin in Hinblick auf diese Funktion analysiert werden können.

Bedeutsam geworden sind solche funktionalistischen Theorien, die dynamische Prozesse richten. Man spricht hier vom Strukturfunktionalismus.

Die bedeutendsten Vertreter des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus sind Bronisław Malinowski und Alfred Radcliffe-Brown.

Politikwissenschaft

Funktionalismus bezeichnet an der Funktion von Politiken ausgerichtete Vorstellung politischer Gestaltung, bspw. das Zusammenwachsen von Staaten bzw. die Aufgabe staatlicher Souveränität zugunsten überstaatlicher Institutionen. Einzelne Politikbereiche werden schrittweise – bspw. über internationale Abkommen – miteinander verschmolzen, welche dann ähnliche Prozesse in anderen Politikbereichen nach sich ziehen (Spill-Over-Effekt) und zur Bildung gemeinsamer politischer Institutionen führen.

Der Integrationsprozess beginnt dabei mit einer Interaktion in einem genau definierten Politikbereich und führt dadurch zu wachsenden Interdependenzen zwischen den beteiligten Akteuren. Die Verstetigung dieser Interaktionen führt zu der Schaffung integrierter Systeme, welche auf regionaler Ebene am erfolgversprechendsten zu erreichen sind. Deutlichstes Beispiel für diesen Prozess ist die EU.

Der Funktionalismus, begründet durch Mitrany und Monnet, versteht sich als Gegenentwurf zum machtorientierten Realismus. Die Akteure des internationalen Systems sind dabei technische Eliten, supranationale Organisationen, form follows function heißt in diesem Zusammenhang, dass sich die „high politics“ dann schon anpassen werden, wenn die „low politics“ im Kooperationsgeflecht aufgehen („Übertragungseffekt“).

Das gegenteilige Prinzip des top-down im Gegensatz zu dem im Funktionalismus postulierten bottom-up wird in der Theorie des Föderalismus befürwortet, wodurch sich diese Beiden Konzepte als Integrationsmethoden klar gegenüber stehen.

Die Kritiker dieses Ansatzes der Integrationstheorie unterstellen dieser Methode, dass dieser Prozess sich sehr langwierig gestalten kann und daher nicht immer die ideale Lösung darstelle. Des Weiteren werden als Voraussetzungen funktionaler Integration auf regionaler Ebene eine starke gemeinsame geschichtliche und kulturelle Bindung genannt, da ohne gemeinsame Werte und Normen ein Konsens nur schwer entstehen kann. Dies sehen sie durch den langsamen Integrationsprozess der ASEAN bestätigt.

Hermeneutik

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Die Hermeneutik (von altgriechisch ἑρμηνεύειν hermēneuein ‚erklären, auslegen, übersetzen‘) ist eine Theorie über die Auslegung von Werken und über das Verstehen. Beim Verstehen verwendet der Mensch Symbole. Er ist in eine Welt von Zeichen und in eine Gemeinschaft eingebunden, die eine gemeinsame Sprache benutzt. Nicht nur in Texte, sondern in alle menschlichen Schöpfungen ist Sinn eingegangen, den herauszulesen eine hermeneutische Aufgabe ist.

In der Antike und im Mittelalter diente die Hermeneutik als Wissenschaft und Kunst der Auslegung grundlegender Texte, besonders der Bibel und Gesetze. In der Neuzeit weitete sich ihr Anwendungsbereich aus, sie entwickelte sich zu einer allgemeinen Lehre von den Voraussetzungen und Methoden sachgerechter Interpretation und zu einer Philosophie des Verstehens. Mit der von Immanuel Kant entscheidend beförderten Einsicht in die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit stellte sich für die Hermeneutik seit dem 19. Jahrhundert unter anderem das Problem der geschichtlichen Gebundenheit menschlichen Denkens und Verstehens. Als einflussreichster Vertreter der philosophischen Hermeneutik im 20. Jahrhundert wendete Hans-Georg Gadamer diese Beschränkung ins Positive und stellte das Verstehen in den Zusammenhang eines prinzipiell nicht zu beendenden Gesprächs über die Deutung wichtiger Zeugnisse der geschichtlichen und kulturellen Überlieferung.

Hermeneutik ist ein künstlich geschaffenes Wort aus der Neuzeit, das wohl erstmals von dem Straßburger Philosophen und Theologen Johann Conrad Dannhauer verwendet wurde. Die allgemeine Hermeneutik beschäftigt sich mit der Auslegung von Texten oder von Zeichen im Allgemeinen. Die besondere Hermeneutik behandelt die mit der Auslegung von Texten verbundenen Probleme, wie sie sich aus den einzelnen Fächern der Rechtswissenschaft, Theologie, Literaturwissenschaft, Geschichte oder Kunstgeschichte ergeben. Auch die Reflexion der Bedingungen des Auslegens, Deutens und Verstehens nicht textgebundener Werke der Musik oder der Bildenden Kunst wird Hermeneutik genannt. Nach idealistischer Auffassung ist Verstehen eine Seinsweise, in der die Welt sich selbst auslegt. Ein intuitiver Ansatz begreift Verstehen als etwas Unmittelbares, das aller Reflexion vorausgeht und aller Erkenntnis und dem diskursiven Denken zugrunde liegt.

Begriffliche Herkunft

Im antiken Griechenland gab das Orakel von Delphi weder konkrete Anweisungen noch verbarg es seinen Sinn völlig, vielmehr deutete es an. Die hermeneutische Kunst sollte die Sprache der Götter erhellen. Die etymologische Ableitung der Hermeneutik von dem Götterboten Hermes ist umstritten, eine gemeinsame Wurzel aber anzunehmen. In der griechischen Mythologie war Hermes nicht nur der Überbringer von Nachrichten der Götter, sondern auch der Übersetzer dieser Botschaften. Ohne seine Interpretation blieben sie kryptisch. Hermes gilt in dieser Mythologie zudem als der Erfinder der Schrift und der Sprache. Zum selben Wortstamm gehört der ἑρμηνεύς (Hermeneus), der bei Platon in zweierlei Gestalt vorkommt: als Dichter, der die Botschaft der Götter vermittelt, und als Rhapsode, der die Werke der Dichter interpretiert. Als ἑρμηνευτική τέχνη (hermeneutike techne, techne: altgr.: Fähigkeit, Kunstfertigkeit, Handwerk) ist der Begriff ἑρμηνευτική zuerst bei Platon im Zusammenhang mit religiöser Weissagung überliefert.

Geschichtliche Entwicklung

Auch wenn die begriffliche Fixierung der Hermeneutik und ihre systematische Entwicklung zu einem eigenen wissenschaftstheoretischen Bereich erst in die frühe Neuzeit fallen, reichen ihre historischen Wurzeln sehr viel weiter zurück. Hermeneutik als Kunst der Interpretation hat ihren Ursprung in der antiken Exegese, der jüdischen Auslegung des Tanach und in altindischen Lehren.

Antike Hermeneutik

Erkundung der Bedeutung

Hermeneutik hatte in der griechischen Religion, Mythologie und in der antiken Philosophie frühe Anwendungsbereiche. Die Kunst der Weissagung erkundete die verborgene Bedeutung eines Objektes und wurde Mantik (μαντεία) genannt. Die Interpretationslehre beschäftigte sich mit der Bedeutung hinter den offensichtlichen Bedeutungen. So wurde bei der Exegese (exégesis = Auslegung, Erläuterung) der Werke Homers zunächst die Bedeutung der Wörter und der Sätze kommentiert. Erst auf einer tieferen Ebene ging es darum, die allegorische (αλληγορειν – etwas anders ausdrücken) Bedeutung zu diskutieren und auszulegen. Sokrates provozierte seine Mitbürger mit der Frage, wie es in Wahrheit um ihr künftiges Schicksal und ihre Seele stehe. Er unterzog ihre Antworten einer scharfen Bedeutungskritik und versuchte zu zeigen, dass alles hinterfragt werden muss, um einen festen Ausgangsboden zu gewinnen.

Platon

Nach Platon sind die zwei Seiten des Seins, die es zu verstehen gilt, die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit und das nicht sinnlich wahrnehmbare wesenhafte Sein. Die Seele strebe nicht nach der sinnlich wahrnehmbaren Beschaffenheit, sondern nach dem wesenhaften Sein. Bei jedem der Dinge komme die vollständige geistige Erkenntnis in fünf Schritten zustande:

  1. der Name (den wir laut aussprechen),
  2. die sprachlich ausgedrückte Begriffsbestimmung (aus Nenn- und Aussagewörtern zusammengesetzt, z.B. „der Kreis ist das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte“),
  3. das durch die fünf Sinne Wahrnehmbare (z.B. vom Zeichner oder vom Drechsler angefertigt),
  4. die begriffliche Erkenntnis (Begreifen durch den vernünftig denkenden Geist, kognitive Vorstellung von solchen Dingen),
  5. dasjenige, was sich nur durch Vertiefung in der Vernunft erkennen lässt und das wahre Urbild, die Idee des Dinges ist (ideelle oder intelligible Realität oder Wesenheit, die reine, nicht sinnliche Wahrheit, das ursprünglich vollkommen Wesenhafte).[13]

Die Annäherung an das innere Wesen der Dinge könne nur frei von verfälschenden Leidenschaften erfolgen:

„Erst wenn durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf.“

Platon, Siebter Brief

Aristoteles

Bei Aristoteles steht neben der Aussage als Ausdruck und als elementare Grundlage des logischen Denkens jegliche Aussage auch immer in dem Fragebezug zu dem, was mit ihr gemeint ist. Bereits das Aussagen selbst wurde im klassischen Griechenland als ein Interpretieren (ἑρμηνεύειν) verstanden. Die Aussage wandelt ein innerlich Gedachtes in geäußerte Sprache um. Die Auslegung des Gesprochenen erfordert den umgekehrten Weg von der Äußerung zur gedachten Aussageabsicht: „Das ἑρμηνεύειν erweist sich also durchaus als ein Vorgang der Sinnvermittlung, die vom Äußeren auf ein Inneres von Sinn zurückgeht.“

Die Allegorese

Bei der antiken Auslegung von Texten sowohl in Griechenland als auch im Judentum war die Allegorese von Bedeutung. Dabei geht es um die Ermittlung eines verborgenen Sinns der Texte, der sich von dem wörtlichen Sinn unterscheidet. Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung allegorischer Auslegungsmethoden leistete die Stoa, die ihrerseits die jüdische Bibelinterpretation insbesondere des Philon von Alexandria beeinflusste. Auch Origenes als frühchristlicher Kommentator der Bibel ging davon aus, dass neben dem wörtlichen Sinn in der Heiligen Schrift vor allem ein höherer geistiger und seelischer Sinn präsent ist. Die frühchristliche Dogmatik musste sich mit dem Bedeutungskonflikt zwischen der besonderen Heilsgeschichte des jüdischen Volkes, wie sie das Alte Testament enthält, und der universalistischen Verkündigung Jesu im Neuen Testament auseinandersetzen. Beeinflusst von neuplatonischen Vorstellungen lehrte Augustinus den Aufstieg des Geistes über den wörtlichen und den moralischen zum geistlichen Sinn. Nach seiner Auffassung sind die Dinge auch als Zeichen zu verstehen (res et signa). Selbst das Gebiet der Dinge verlangt demnach eine Erschließung des Sinns der Schöpfung.

Mittelalterliche Exegese

Im christlichen Mittelalter wurde die Tradition der antiken Exegese in ihrer Grundstruktur der Zweiteilung fortgesetzt. Gegenstand war die Bibel. Die patristische Hermeneutik, die Origenes und Augustin zusammengefasst hatten, wurde durch Cassian zur Methode des vierfachen Schriftsinns entwickelt und systematisch dargestellt. Die Grenzen der Textkritik wurden durch eine Doktrin, den exegetischen Kode bestimmt. Grund war der Konflikt zwischen der Dogmatik der Auslegung und den Ergebnissen damals neuer Erforschungen. Nach dieser Doktrin besaß die Bibel einen äußeren Mantel, den cortex, der einen tieferen Kern, den nucleus umzog. Auf der Cortex-Ebene wurden Grammatik und Semantik hinsichtlich des buchstäblichen Sinns (sensus litteralis) und des historischen Sinns (sensus historicus) hin interpretiert, auf der Kern-Ebene (nucleus) die tiefere Bedeutung, die sententia, erforscht. Dazu wurde der nucleus in drei Tiefen der Ausformungen von Bedeutung unterteilt. Auf der ersten Nucleus-Stufe wurde die moralische Bedeutung (sensus tropologicus) erforscht, von der sich das Verhalten der Menschen untereinander leiten lassen sollte. Auf der nächst tieferen standen die christologischen und kirchlichen Bedeutungen (sensus allegoricus), mit denen die Glaubensgehalte expliziert werden sollten. Auf der tiefsten Ebene des nucleus ging es in der Exegese um den sensus anagogicus, den hinführenden Sinn, der die Tiefe des Geheimnisses der Offenbarung deutlich macht und dadurch auf Künftiges hinweist. Die tiefsten Bedeutungen, die die himmlischen Mysterien betrafen, galten als für die Menschen im Diesseits nicht erschließbar. Sie werden ihnen erst im Jenseits offenbart (Offenbarung).

Rezeption des römischen Rechts

Die Tradition der juristischen Hermeneutik gewann eine neue Bedeutung, als die Rechtswissenschaft im Kampf des aufstrebenden städtischen Bürgertums gegen den Adel zu einer ökonomisch und politisch relevanten Kunst wurde. Das Ringen um die richtige Auslegung juristischer Texte führte zu einer säkularisierten hermeneutischen Methodenlehre. Sie wurde zu einem Auslegungsverfahren für Denkprodukte der Vergangenheit. Unter Berufung auf anerkannte historische Autoritäten sollten juristische Prozesse beeinflusst werden. Es galt nicht nur, die römischen Juristen zu verstehen, sondern zugleich die Dogmatik des römischen Rechtes auf die neuzeitliche Welt anzuwenden. Daraus erwuchs der Rechtswissenschaft eine enge Bindung der hermeneutischen an die dogmatische Aufgabe. Die Auslegungslehre konnte sich nicht allein auf die Absicht des Gesetzgebers stützen. Sie musste vielmehr den „Grund des Gesetzes“ zum hermeneutischen Maßstab erheben.

Reformation

Rückgewinnung des Maßgeblichen

Gegenstand der Hermeneutik, die sich mit Reformation und Humanismus Anfang des 16. Jahrhunderts neu entfaltete, war die richtige Auslegung von solchen Texten, die das eigentlich Maßgebliche enthalten, das es zurückzugewinnen gilt. Dies galt insbesondere für die Biblische Hermeneutik. Die zu ihrer Legitimation wesentlich auf die Geltung und Auslegung der Bibel gestützte protestantische Reformation hat der Hermeneutik nachhaltig neue Impulse gegeben. Die Reformatoren polemisierten gegen die Tradition der Kirchenlehre und deren Behandlung des Textes mit der allegorischen Methode. Sie forderten die Rückbesinnung auf den Wortlaut der Heiligen Schrift. Die Exegese sollte objektiv, objektgebunden und frei von aller subjektiven Willkür sein.

Luther und Melanchton

Martin Luther betonte, dass der Schlüssel zum Verständnis der Bibel in ihr selbst angelegt sei („sui ipsius interpres“). Jeder Christenmensch besitze die Fähigkeit, die Schrift selbst auszulegen und zu verstehen (Sola scriptura-Prinzip). Nach Luther soll man der Schrift nicht mit einer vorgefassten Meinung begegnen, sondern auf ihren eigenen Wortlaut achten. Die Schriftauslegung darf die Schrift nicht daran hindern, ihre eigene Sache zu sagen, da sonst der Ausleger der Schrift ins Wort fällt.

„Also ist die schrifft ir selbs ain aigen liecht. Das ist dann fein, wenn sich die schrifft selbst auslegt […]“

Martin Luther, Predigt 1522

Philipp Melanchthon stützte sich bei der Ausarbeitung einer frühprotestantischen Hermeneutik auf die humanistische Rhetoriktradition. Das begriffliche Vokabular entstammte durchweg der antiken Rhetorik. Melanchthon deutete die antiken rhetorischen Grundbegriffe für das rechte Studium der Bücher (bonis auctoribus legendis) um. Die Forderung, alles Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, geht auf das Verhältnis von „caput et membra“ (Haupt und Glieder) zurück: Dem Haupt sind die anderen Glieder untergeordnet. Damit verbunden war eine Akzentverschiebung weg von der Konzeption einer wirksamen eigenen Rede („ars bene dicendi“) hin zur verständigen Lektüre und Deutung von Texten („ars bene legendi“): „Die Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie dient nicht dazu, Beredsamkeit zu erzeugen, sondern für die auszubildende Jugend ein methodisches Rüstzeug bereitzustellen, um elaborierte Texte kompetent zu beurteilen.“

Matthias Flacius

Melanchthons Schüler Matthias Flacius betonte die dogmatische Einheit des Kanon, die er gegen die Einzelauslegung der neutestamentlichen Schriften ausspielte. Damit schränkte er den lutherischen Grundsatz „sacra scriptura sui ipsius interpres“ stark ein. Er unterstrich die Notwendigkeit gediegener Sprachkenntnisse für das Verständnis vermeintlich dunkler Bibelstellen, deren Klärung er durch das systematische Heranziehen von Parallelstellen der Heiligen Schrift betrieb. Oft konnte er dabei an Untersuchungen des Augustinus und anderer Kirchenväter anknüpfen. Die Schwierigkeiten, die das Verstehen der Bibel stellenweise hemmten seien rein sprachlich oder grammatisch: „Die Sprache ist nämlich ein Zeichen oder ein Bild der Dinge und gleichsam eine Art Brille, durch welche wir die Dinge selbst anschauen. Wenn daher die Sprache entweder an sich oder für uns dunkel ist, so erkennen wir mühsam durch sie die Sachen selbst.“

Renaissance

Ars critica

In der Renaissance entwickelte sich die Textkritik (ars critica) als eigenständige Disziplin. Sie bemühte sich um die ursprüngliche Gestalt der Texte. Die bestehende Tradition wurde durch die Aufdeckung ihrer verschütteten Ursprünge aufgebrochen oder verwandelt. Der verdeckte und entstellte Sinn der Bibel und der Klassiker sollte wieder aufgesucht und erneuert werden. Im Rückgang zu den originalen Quellen sollte ein neues Verständnis gewonnen werden für das, was durch Verzerrung und Missbrauch verdorben war: die Bibel durch die Lehrtradition der Kirche, die Klassiker durch das barbarische Latein der Scholastik. Das neu belebte Studium der überlieferten Klassiker der römischen, dann auch der griechischen Antike führte in Verbindung mit dem Buchdruck zu einer erheblichen Ausweitung der Auslegung und Deutung von Texten. Es erwachte das Bedürfnis nach einer neuen Methodenlehre der überall aufsprießenden Wissenschaften. Ein neues Organon des Wissens sollte das aristotelische ersetzen oder komplettieren.[23]

Johann Conrad Dannhauer

Nun erst kam die Hermeneutik zu ihrem Begriff, den Johann Conrad Dannhauer prägte.[24] Seine bislang wenig beachtete Schrift „Idea Boni Interpretis[25] von 1630 konzipierte er als „hermeneutica generalis“. 1654 veröffentlichte er sein Werk „Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum“: Zur wahren Interpretation und „Beseitigung der Dunkelheit“ sind erforderlich die Unbestechlichkeit des Urteils, die Untersuchung des Vorangehenden und des Folgenden, die Beachtung der Analogie, der Kernaussage (Scopus) und der Zielsetzung des Textes, die Kenntnis des Sprachgebrauchs durch den Autor sowie die Berücksichtigung von Übersetzungsfehlern.

Dannhauer hat als erster auf die Bedeutung der allgemeinen Hermeneutik hingewiesen: „Wie es nicht hier eine juristische Grammatik gibt, dort eine davon verschiedene theologische und noch eine andere medizinische Grammatik, sondern eine allgemeine, allen gemeinsame, so gibt es eine allgemeine Hermeneutik, auch wenn in den einzelnen Gegenständen Verschiedenheit vorliegt.“ Ihm ging es um eine allgemeine Wissenschaft vom Interpretieren, um eine philosophische Hermeneutik, die auch anderen Fakultäten wie Recht, Theologie und Medizin das Instrumentarium zur Auslegung schriftlicher Aussagen bereitstellen sollte. Bei dieser universalen Ausrichtung handelte es sich um eine propädeutische Wissenschaft, die im klassischen Wissenschaftsspektrum zur Logik gerechnet werden konnte.

Aufklärung

Die theologische Hermeneutik der frühen Aufklärung lehnte die Lehre von der Verbalinspiration ab und versuchte, allgemeine Regeln des Verstehens zu gewinnen. Die historische Bibelkritik fand damals ihre erste hermeneutische Legitimation.

Baruch de Spinoza

Spinozas Hermeneutik verteidigt die Freiheit der Philosophie gegenüber der Theologie. Frei und unbefangen soll die Schrift kritisch und historisch geprüft werden. Was ihr nicht in voller Klarheit selbst entnommen werden kann, ist nicht anzunehmen. Spinozas 1670 erschienener Tractatus theologico-politicus enthält eine Kritik des Wunderbegriffs und macht den Anspruch der Vernunft geltend, dass nur Vernünftiges, also Mögliches, anerkannt werden darf. Das in der Heiligen Schrift, woran die Vernunft Anstoß nimmt, verlangt nach einer natürlichen Erklärung. Es ist nicht die Absicht der Bibel, Wissenschaft zu lehren. Deshalb darf der Unterschied zwischen Vernunft und Glauben nicht aufgehoben werden. Das Wort Gottes lehrt die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Es ist nicht identisch mit der Schrift. Diese vermittelt nur das Wissen, das zum Verständnis des göttlichen Liebesgebots erforderlich ist. Die sonstigen Spekulationen der Bibel über Gott und die Welt machen nicht den Kern der Offenbarung aus. Der ganze Inhalt der Schrift ist der menschlichen Auffassungsgabe und Einbildungskraft angepasst. Die Wundergeschichten sind deshalb weitgehend metaphorisch zu deuten. Die Methode der Schrifterklärung soll der Methode der Naturerklärung entsprechen und sich an Daten und Prinzipien halten. Texte sollen nach Hinweisen auf ihre Entstehung und Überlieferungsgeschichte befragt werden. Die biblischen Lehren sollen aus dem geschichtlichen Umkreis ihrer Entstehung heraus verständlich werden.

„Ich habe gezeigt, dass die Schrift nichts Philosophisches, sondern allein die Frömmigkeit lehrt und dass ihr ganzer Inhalt der Fassungskraft und den vorgefassten Meinungen des Volkes angepasst ist. Wer sie daher der Philosophie anpassen will, der muss natürlich den Propheten vieles andichten, woran sie auch nicht im Traum gedacht haben, und der muss ihre Meinung falsch auslegen. Wer im Gegenteil die Vernunft und die Philosophie zur Magd der Theologie macht, der muss die Vorurteile eines alten Volkes als göttliche Dinge gelten lassen und den Geist durch sie einnehmen und verblenden.“

Baruch de Spinoza

Johann Martin Chladni

Johann Martin Chladni führte mit dem „Sehepunkt“ des Interpreten 1742 einen Aspekt in die hermeneutische Theorie ein, der in unterschiedlicher Hinsicht aktuell geblieben ist: „Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, dass wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punkt nennen.“ Den Ausdruck „Sehepunkt“ hat Chladni zufolge Leibniz geprägt, der damit den unaufhebbaren Perspektivismus der Monaden kennzeichnete.[29] Erst die Berücksichtigung des Sehepunktes ermögliche Objektivität, denn nur dadurch ergebe sich die Chance, die individuellen „Abwechselungen, die die Menschen von einer Sache haben“, angemessen zu berücksichtigen. Es geht Chladni also um das richtige Verständnis durch Rückführung auf den sie leitenden Sehepunkt. Ein Sprachobjektivismus, der vom Sehepunkt absehen würde, ginge an den Sachen vollkommen vorbei. Dies ist die Grundlehre der universalen Hermeneutik.[30]

Georg Friedrich Meier

Wie Chladenius gehörte auch Georg Friedrich Meier mit seiner 1757 erschienenen Schrift zur Auslegekunst dem Zeitalter der Aufklärung an. Meier weitete den hermeneutischen Anspruch weit über die Textdeutung auf eine Universalhermeneutik aus, die auf Zeichen aller Art, naturhafte wie künstliche, gerichtet war. Verstehen bedeutet demnach das Einordnen in einen die ganze Welt umschließenden Zeichenzusammenhang. Die Harmonie des Weltganzen wiederum bedingt nach Meier, der hier Leibniz’ Vorstellung von der besten aller Welten aufgreift, dass jedes Zeichen auf ein anderes verweisen kann, weil in dieser Welt ein optimaler Zeichenzusammenhang gegeben sei.

Chladenius wie Meier haben folglich in unterschiedlicher Weise in Leibniz’ Denken ihren Ausgangspunkt. Grondin sieht darin zwei Fronten der gegenwärtigen Hermeneutik-Diskussion vorgezeichnet: „auf der einen Seite die herausfordernde Ubiquität des Perspektivismus (der sich nach dem Szientismus des 19. Jh. Relativismus glaubte nennen zu müssen) im kontinentalen Bereich, auf der anderen die semiotische Unterwanderung des hermeneutischen Denkens in der strukturalistischen Linguistik, von der der postmoderne Dekonstruktivismus, für den jedes Wort eine Abtrift von Zeichen signalisiert, zehrt.“

Immanuel Kant

Dass die dem Rationalitätsbegriff der Aufklärung verpflichteten hermeneutischen Ansätze wenig später keine Rolle mehr spielten und völlig vergessen schienen, geht auf die Wirkung Kants zurück, dessen Kritik der reinen Vernunft in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Zusammenbruch des aufklärerisch-rationalen Weltbilds zur Folge hatte. In Kants Unterscheidung zwischen der Welt der Phänomene, wie sie der menschliche Erkenntnisapparat vermittelt, und den „Dingen an sich“ liegt „eine der geheimen Wurzeln der Romantik und des Aufschwungs, der der Hermeneutik seitdem widerfahren ist.“ Mit der durch Kant geförderten Einsicht in die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit stellte sich für die Hermeneutik seit dem 19. Jahrhundert unter anderem das Problem der geschichtlichen Gebundenheit menschlichen Denkens und Verstehens.

19. Jahrhundert

Friedrich Ast

Die These vom hermeneutischen Zirkel wurde wohl erstmals von dem Altphilologen Friedrich Ast (1778 bis 1841) aufgestellt:

„Wenn wir nun aber den Geist des gesamten Altertums nur durch seine Offenbarungen in den Werken der Schriftsteller erkennen können, diese aber selbst wieder die Erkenntnis des universellen Geistes voraussetzen, wie ist es möglich, da wir immer nur das eine nach dem anderen, nicht aber das Ganze zu gleicher Zeit auffassen können, das Einzelne zu erkennen, da dieses die Erkenntnis des Ganzen voraussetzt? Der Zirkel, dass ich a, b, c usw. nur durch A erkennen kann, aber dieses A selbst wieder nur durch a, b, c usf., ist unauflöslich, wenn beide A und a, b, c als Gegensätze gedacht werden, die sich wechselseitig bedingen und voraussetzen, nicht aber ihre Einheit anerkannt wird, so dass A nicht erst aus a, b, c usf. hervorgeht und durch sie gebildet wird, sondern ihnen selbst vorausgeht, sie alle auf gleiche Weise durchdringt, a, b, c also nichts anderes als individuelle Darstellungen des Einen A sind. In A liegen dann schon auf ursprüngliche Weise schon a, b, c; diese Glieder selbst sind die einzelnen Entfaltungen des Einen A, also liegt in jedem auf besondere Weise schon A, und ich brauche nicht erst die ganze unendliche Reihe der Einzelheiten zu durchlaufen, um ihre Einheit zu finden.“

Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik

Der Schüler Schellings erklärte das historische Verstehen in diesem Sinne durch ein „Grundgesetz“: Es gelte „aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen; jenes die analytische, diese die synthetische Methode der Erkenntnis.“ Nach Ast ist der Geist des Ganzen in jedem einzelnen Element repräsentiert. Die Idee des Ganzen werde nicht erst durch die Zusammensetzung aller seiner einzelnen Elemente geweckt, sondern schon „mit der Auffassung der ersten Einzelheit“. Das Verstehen und Erklären eines Werkes sei „ein wahrhaftes Reproduzieren oder Nachbilden des schon Gebildeten.“

Friedrich Schleiermacher

Für die Entwicklung der Hermeneutik im 19. Jahrhundert setzte der Theologe Friedrich Schleiermacher grundlegende Akzente. Für Schleiermacher war Hermeneutik die Kunst des Verstehens und die Technik der richtigen Auslegung. Er hat auf die durch Kant bewirkte fundamentale Verunsicherung reagiert, die in Bezug auf die menschliche Vernunft eingetreten war: Deren Verstehensanstrengungen wurden seit Kant prinzipiell als begrenzt, perspektivisch und hypothetisch angesehen. Schleiermacher betonte: „Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständnis unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehen zu wollen. Denn das Verständnis wird gewöhnlich erst unsicher, weil es schon früher vernachlässigt worden.“ Er wollte deshalb Vorkehrungen gegen ein mögliches Missverstehen treffen: Der einzelne Gedanke solle aus dem Ganzen des Lebenszusammenhangs gedeutet werden, dem er entspringt.

Zwei Ebenen der Textauslegung gelte es den Regeln der Kunst gemäß zu beachten: die grammatische, die den sprachlichen Kontext des Schriftzeugnisses aufschlüsselt, und die psychologische, die die Motive des Verfassers zu erschließen trachtet, und zwar in einem Maße, dass der Interpret den Autoren zuletzt besser versteht, als es dieser selbst vermocht hat. Mit dieser Erweiterung verliert die Hermeneutik ihre traditionelle Beziehung zu Texten als Wahrheitsvermittlern. Stattdessen werden diese als der Ausdruck der Psyche, des Lebens und der geschichtlichen Epoche des Verfassers begriffen, und das Verstehen wird gleichgesetzt mit einem Wiedererleben und Einleben in das Bewusstsein, das Leben und die geschichtliche Epoche, aus der die Texte entstammen. Bezogen auf die Bibelexegese, die Schleiermacher vorschwebte, vertrat er, dass die Autoren nur aus ihrer gesamten Lebenssituation heraus verstanden werden könnten. Die Hermeneutik wird zu einer allgemeinen Kunstlehre, sich in das Leben einzufühlen, das hinter einem gegebenen Geistesprodukt steht. Ein Interpret versucht, sich in das Denken des Autors hineinzuversetzen, um den schöpferischen Akt nachzuvollziehen und auf diese Weise den möglichen Sinn des Kunstwerkes aufzudecken. Diese Theorie des „Einlebens“, welche Schleiermacher Divination nennt, verbindet er mit einer allgemeinen metaphysischen Theorie, nach der Verfasser und Leser beide Ausdruck ein und desselben überindividuellen Lebens (des Geistes) sind, welches sich durch die Weltgeschichte entwickelt.

Bereits Schleiermacher hat die Fremdheit des zu Verstehenden als eines der zentralen Themen in die hermeneutische Diskussion eingeführt. Er geht von einer grundsätzlichen Differenz zwischen dem verstehenden Subjekt und dem zu Verstehenden aus. Die Überwindung dieser Differenz sei Aufgabe der Hermeneutik als Kunst des Verstehens und sei grundsätzlich möglich. Dieser Optimismus der prinzipiellen Überwindbarkeit der Fremdheit des zu Verstehenden hat die weitere hermeneutische Diskussion nachhaltig geprägt.

Historismus

Johann Gustav Droysen hat das „Verstehen“ erstmals als wissenschaftlichen Begriff zur Bezeichnung der Methode der Geschichtswissenschaften eingeführt. Er unterschied ihn von dem „Entwickeln“ bzw. später „Erkennen“ für die philosophisch-theologische Methode und von dem „Erklären“ für die mathematisch-physikalische Methode. Die Möglichkeit des Verstehens beruht auf der geistig-sinnlichen Natur des Menschen: Jeder innere Vorgang bekundet sich in einem entsprechenden äußerlich wahrnehmbaren Vorgang. Dieser kann von einem anderen Menschen wahrgenommen werden und ruft bei ihm dann den gleichen inneren Vorgang hervor.

Die Hermeneutik wurde zur Grundlage für alle historischen Geisteswissenschaften, nicht nur für die Theologie. Die psychologische Interpretation wurde – in der Nachfolge Schleiermachers und gestützt auf die romantische Lehre vom unbewussten Schaffen des Genies – die immer entschiedenere theoretische Basis der Geisteswissenschaften insgesamt. Das neue erkenntnistheoretische Interesse hatte sich bei August Boeckh in seinen Vorlesungen über „Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften“ (1877) durchgesetzt. Boeckh war ein Schüler Schleiermachers. Das Verstehen ist eine eigene Art der Erkenntnis, die das Individuelle auf intuitive Weise erfasst. Boeckh bestimmte die Aufgabe der Philologie als das „Erkennen des Erkannten“. Er unterschied verschiedene Interpretationsweisen, nämlich die grammatische, die literarisch-gattunghafte, die historisch-reale und die psychologisch-individuale.

Wilhelm Dilthey

Bei Wilhelm Dilthey kam es zu einer systematischen Neubegründung der Idee der Geisteswissenschaften auf eine verstehende und beschreibende Psychologie. Der Mensch lebt im Gegensatz zur Natur und hat Erlebnisse. Das Erlebnis ist das Einzige, was unmittelbar gewiss ist: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Entsprechend unterscheidet Dilthey zwei psychologische Erkenntnisweisen, nämlich die beschreibende und zergliedernde Psychologie einerseits und die an der naturwissenschaftlichen Methode orientierte erklärende und konstruktive Psychologie andererseits. Dabei ist das Verstehen vor allem die Methode der beschreibenden und zergliedernden Psychologie. Das Seelenleben wird von dieser als ein primär gegebener, einziger Zusammenhang begriffen. Darin sind nicht nur die Bestandteile, sondern auch deren Verbindungen, mithin die Übergänge eines Seelenzustandes zum anderen mitsamt dem Erwirken, das von einem zum anderen führt, in innerer Wahrnehmung ursprünglich gegeben, das heißt erlebt. Das Verstehen beruht nicht auf rein intellektuellen Erkenntnisakten sondern auf dem „Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung.“ Dagegen versucht die erklärende oder konstruktive Psychologie, die seelischen Erscheinungen aus einem Kausalzusammenhang abzuleiten. Dieser ist aber nicht ursprünglich in der Wahrnehmung gegeben, das heißt er ist nicht erlebt. Stattdessen wird er aus einer begrenzten Anzahl von Elementen erst mithilfe verbindender Hypothesen konstruktiv erschlossen. Beide psychologische Erkenntnisweisen ergänzen sich aber. Die beschreibende Psychologie fasst die seelischen Erscheinungen in feste, beschreibende Begriffe. Diese geben ihrerseits die Basis für Hypothesenbildungen der erklärenden Psychologie ab.

Das Ganze ist die Lebenseinheit. Das Einzelne soll aus dem Zusammenhang des Ganzen verstanden werden. Die Lebensstruktur wird analog zu einem Text interpretiert, sie baut ihre Einheit aus ihrer eigenen Mitte heraus auf. Das Ganze bestimmt den Sinn und die Bedeutung der Teile, jeder Teil drückt etwas vom Ganzen aus: „Wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das Einzelne uns fassbar zu machen.“ Das Verstehen von Geschichtlichem setzt einen „historischen Sinn“ voraus – so wie sich die Bedeutung eines einzelnen Wortes vom Satz her erschließt, der Satz seinen Sinn durch den Kontext des ganzen Textes erhält und der Text nur dann wirklich verstanden wird, wenn alle überlieferten Texte für die Auslegung herangezogen werden. Das historische Verstehen breitet sich über alle einzelnen Gegebenheiten aus und wird universal, weil es in der Totalität des Geistes seinen Grund findet.

Unter dem Eindruck des fulminanten Aufschwungs und Prestigegewinns der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert kommt es Dilthey vor allem darauf an, den Geisteswissenschaften einen klar definierten Zuständigkeitsbereich nachzuweisen und vorzubehalten, indem er, ausgehend von den Naturwissenschaften, Abgrenzungen vornimmt:

„Wir bemächtigen uns dieser physischen Welt durch das Studium ihrer Gesetze. Diese Gesetze können nur gefunden werden, indem der Erlebnischarakter unserer Eindrücke von der Natur, der Zusammenhang, in dem wir, sofern wir selber Natur sind, mit ihm stehen, das lebendige Gefühl, in dem wir sie genießen, immer mehr zurücktritt hinter das abstrakte Auffassen derselben nach den Relationen von Raum, Zeit, Masse, Bewegung. Alle diese Momente wirken dahin zusammen, dass der Mensch sich selbst ausschaltet, um aus seinen Eindrücken diesen großen Gegenstand Natur als eine Ordnung nach Gesetzen zu konstruieren. Sie wird dem Menschen zum Zentrum der Wirklichkeit.
Aber derselbe Mensch wendet sich dann von ihr rückwärts zum Leben, zu sich selbst. Dieser Rückgang des Menschen in das Erlebnis, durch welches für ihn erst die Natur da ist, in das Leben, in dem allein Bedeutung, Wert und Zweck auftritt, ist die andere große Tendenz, welche die wissenschaftliche Arbeit bestimmt. Ein zweites Zentrum entsteht. Alles, was der Menschheit begegnet, was sie erschafft und was sie handelt, die Zwecksysteme, in denen sie sich auslebt, die äußeren Organisationen der Gesellschaft, zu der die Einzelmenschen in ihr sich zusammenfassen – all das erhält nur hier eine Einheit. Von dem sinnlich in der Menschengeschichte Gegebenen geht hier das Verstehen in das zurück, was nie in die Sinne fällt und doch in diesem Äußeren sich auswirkt und ausdrückt.“

Wilhelm Dilthey 1910.

Die Hermeneutik wird damit auf jenen geschichtlichen Boden verwiesen, ohne den geisteswissenschaftliche Erkenntnis nach Dilthey nicht zu erlangen ist, da jedem individuellen menschlichen Leben die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen konstitutiv mitgegeben sind. Die Abgrenzung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik von naturwissenschaftlichen Methoden vollzog er unter anderem am Beispiel der Psychologie. Der „erklärenden“ Psychologie, die er in der Nähe der auf Hypothesenbildung und Kausalitäten gegründeten Erkenntnisweise der Naturwissenschaften sah, setzte Dilthey eine auf das Verstehen von Erlebniszusammenhängen gegründete Psychologie entgegen. Der historisch-hermeneutische Horizont wird von Dilthey weit ausgespannt:

„Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte. Wie die Zeit voranschreitet sind wir von den Römerruinen, Kathedralen, Lustschlössern der Selbstherrschaft umgeben. Geschichte ist nichts vom Leben Getrenntes, nichts von der Gegenwart durch ihre Zeitferne Gesondertes. […] Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er. Die Natur, der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfasst die unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften.“

Wilhelm Dilthey 1910.

Diltheys Bestreben, eine universelle Methodik der auf „geschichtlichen Seelenvorgängen“ beruhenden Geisteswissenschaften zu entwickeln und diese von den Gegenständen und Arbeitsweisen der Naturwissenschaften abzugrenzen, übte einen nachhaltige Wirkung aus. Mit seiner Lebensphilosophie wollte er hinter alle Relativität auf ein Konstantes zurückzugehen und entwarf eine einflussreiche Typenlehre der Weltanschauungen, die der Mehrseitigkeit des Lebens entsprechen sollte.

Release 2011.07.31

 

 

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